C. Rohr u.a. (Hg.): Krisen, Kriege, Katastrophen

Cover
Titel
Krisen, Kriege, Katastrophen. Zum Umgang mit Angst und Bedrohung im Mittelalter


Herausgeber
Rohr, Christian; Bieber, Ursula; Zeppezauer-Wachauer, Katharina
Reihe
Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 3
Erschienen
Heidelberg 2018: Universitätsverlag Winter
Anzahl Seiten
VI, 420 S.
Preis
€ 42,00
von
Gerd Althoff

Der gut als Beitrag zur Corona-Pandemie denkbare Band ging aus einer Ringvorlesung des Interdisziplinären Zentrums für Mittelalterstudien in Salzburg hervor. Charakterisiert wird er durch eine interdisziplinäre Ausrichtung, die von literaturwissenschaftlichen Beiträgen dominiert, jedoch durch historische, musikwissenschaftliche, medizinische und lexikographische ergänzt wird. Wie Titel und die Ausführungen der HerausgeberInnen in der kurzen Einleitung ausweisen, war der Rahmen des Unternehmens breit angelegt, um viele Erscheinungen zu erfassen, die mittelalterlichen Menschen Angst und ein Gefühl der Bedrohung vermittelten. Mehrere Beitragende nutzten diese Freiheit auch dazu aus, die mittelalterlichen Befunde mit modernen Erscheinungen zu kontrastieren.

Die 12 Beiträge sind in drei Grosskapitel gegliedert. Der erste Teil betrifft «den Umgang der Menschen mit Naturgefahren und Seuchen». Christian Rohr (Bern), der bereits seine Habilitationsschrift extremen Naturereignissen in den Alpen gewidmet hatte, formuliert zunächst sieben Kriterien, nach denen mittelalterliche Zeitgenossen Katastrophen als solche erkannten. Danach behandelt er Erdrutsche, Überflutungen, Lawinen, Unwetter in den Alpen und Heuschreckenplagen. Ein Deutungsmuster, das man erwartet, die Katastrophe als Strafe Gottes, taucht jedoch erst in der Zusammenfassung auf: «Insgesamt sind religiöse Deutungsmuster deutlich seltener, als man erwarten könnte» (S. 51). Sollte die Alpenregion sich an diesem zentralen Punkt des Gottesverständnissses stark vom übrigen Europa unterscheiden?

Ursula Bieben (Salzburg) demonstriert dagegen am Beispiel der altrussischen Chroniken und ihrer Nachrichten zu den Widrigkeiten menschlichen Lebens überzeugend, dass Katastrophen und Seuchen die Menschen als Strafen Gottes trafen: «und so ging unser Land um unserer Sünden willen zugrunde» (S. 64); «derart vergalt uns Gott unsere Taten» (S. 67); «dass Gott bei uns um unserer Sünden willen Verwirrung anrichtete» (S. 71). Ihrer zusammenfassenden Deutung, dass «die Wahrnehmung und Interpretation [von Katastrophen] im mittelalterlichen Russland durch traditionelle christlich-religiöse Konzepte vorgegeben [war], die zum Teil mit der westlich-europäischen theologischen Exegese ähnlicher Ereignisse korrespondieren», ist daher uneingeschränkt zuzustimmen. Jan Cemper-Kiesslich (Salzburg) führt am Beispiel der Seuchen Syphilis, Pest und Schwarze Pocken die Unterschiede prä-mikrobiellen und mikrobiellen Verständnisses von Seuchen vor, wobei er durchaus Hochachtung für die Leistungen der frühen «Forscher» zum Ausdruck bringt. Eine ausführliche Dokumentation der Krankheitsverläufe bringt zudem für medizinische Laien eine Vielzahl wichtiger Informationen.

Daniel Rötzer-Matz (Wels) stellt unter der Formel «die Kunst des Verdrängens» die Pest von 1348 mittels Boccacios Decameron dar, wobei er einleitend einige Informationen zum Verständnis der Krankheit Pest in Mittelalter und Moderne gibt. Die folgende ausführliche Inhaltsangabe des Decameron ist dagegen gänzlich einer früheren Arbeit von Jürgen Grimm entnommen.

Die zweite Abteilung des Bandes widmet sich «politischen, sozialen und emotionalen Krisen». Ein Beitrag des verstorbenen Heinz Dopsch, der von Wolfgang Neuper (Salzburg) überarbeitet wurde, bietet einen weitgespannten Überblick über die Thematik der mittelalterlichen Kriege und Fehden unter dem problematischen Aspekt «Krise». Insge samt überwiegen allgemein bekannte Ausführungen zur Kriegs- und Fehdeführung, zum Heerwesen, zu Strategien und Bewaffnung. Neuere Einschätzungen über die Gewohnheiten der Vermeidung und der friedlichen Beendigung von Gewalt fehlen doch (zu) deutlich.

Den Beitrag von Birgit Wiedl (St. Pölten) charakterisiert dagegen eine engere Rahmung durch die Konzentration auf direkte und indirekte Beteiligung der österreichischen Juden an kriegerischem Geschehen oder anderen Formen der Gewalt. Die Verfasserin kann mit prosopographischer Quellenarbeit sowohl einige signifikante Einzelfälle präsentieren, in denen Juden in unterschiedlicher Weise in die Auseinandersetzungen verwickelt waren, sei es, dass sie im Zuge von Kreuzzügen Opfer von Pogromen wurden, sei es auch, dass sie als Unterstützer einer Partei Verluste erlitten oder als Geldverleiher in Erscheinung traten. In letzterer Funktion konnten sie erheblich geschädigt werden, weil etwa Landesherren durch sog. «Tötbriefe» die Schulden ihrer Gefolgsleute annullieren konnten. Insgesamt vermittelt der Beitrag bei aller Vorsicht einen tiefen Einblick in die zumeist indirekte Beteiligung von Juden an Konflikten der österreichischen Eliten, die in der Mehrheit ihre prekäre Integration in die christlich geprägte Gesellschaft erkennen lassen.

Von Überschwang sind die Ausführungen des Altgermanisten Klaus M. Schmidt (Salzburg) geprägt, der einerseits Forschungszugänge zum Gesamtthema des Bandes mittels der in Salzburg eingerichteten «Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank» hochschätzt: «Dass Besitz und Macht die Triebkräfte der meisten gewalttätigen Auseinandersetzungen innerhalb der mittelalterlichen Literatur darstellen, ist mittels weniger Klicks dem Korpus zu entnehmen» (S. 243). Andererseits nutzt er die vorgestellten Belege immer wieder dazu, den Hass als die entscheidende «Triebkraft» des Krieges herauszuarbeiten: «an dieser Grundvoraussetzung hat sich seit der frühesten Zivilisationsstufe kaum etwas geändert» (S. 234). Deshalb ist es für den Autor auch selbstverständlich, seine Ausführungen zu den mittelalterlichen Belegen mit Reflexionen über moderne Parallelen zu dramatisieren. So schliesst er denn auch den Beitrag mit dem Gedanken, dass nach Steven Pinkers Untersuchung «die Tendenz zur Gewalttätigkeit seit dem Mittelalter abgenommen hat» (S. 280), wobei er allerdings «regelrechte Kriegszeiten» ausnahm.

Der verstorbene Ulrich Müller und seine Co-Autorin Katharina Zeppezauer-Wachauer (Salzburg) machen auf vergnügliche Weise deutlich, was in den mittelalterlichen Literaturwissenschaften seit langem ein viel diskutiertes Thema ist: dass die Sprache, in der die Liebe und das Verhältnis der Geschlechter beschrieben und besungen wird, vom metaphorischen Gebrauch der Begrifflichkeit zu Kampf, Jagd und nicht zuletzt Dienst lebt.

Auf den schwierigen Vergleich von Mittelalter und Moderne setzt auch Siegrid Schmidt (Salzburg), indem sie psychologische Aspekte der Trauerarbeit in Nibelungenlied und Klage mit denen der Angehörigen von Opfern der ICE-Katastrophe von Eschede im Jahre 1998 vergleicht. Die von ihr abschliessend festgestellten «Kongruenzen zwischen Beschreibungsmodellen der Psychologie, einem aktuellen Anwendungsbeispiel und der mittelhochdeutschen nibelungischen Gestaltung von Trauer» (S. 327), die sie als «erstaunlich» charakterisiert, sind für mich nicht nachvollziehbar. Schon die Fokussierung auf Trauerarbeit scheint problematisch, denn für die mittelalterlichen Akteure ging es doch weit eher um Fragen der Rachearbeit, denen man gewiss nicht «transhistorische All gemeingültigkeit» unterstellen kann.

Die dritte Abteilung des Buches widmet sich dem Stellenwert von apokalyptischen Vorstellungen in Krisen- und Katastrophenfällen. Manfred Kern (Salzburg) befasst sich einleitend mit dem Problem der Unverständlichkeit der Johannes-Apokalypse und bietet eine auf Vollständigkeit zielende Paraphrase mit hilfreichen Kommentaren. Zudem zeigt er an zwei Beispielen, wie apokalyptisches Gedankengut Eingang in literarische Zeugnisse gefunden hat. In einem abschliessenden Abschnitt illustriert er am Beispiel des Totentanzes, wie stark dieses Gedankengut auch Bildproduktionen geprägt hat.

Maria E. Dorninger (Salzburg) beschäftigt sich mit lokalen Endkaisermythen, da in Salzburg solche in Bezug auf den Unterberg gepflegt wurden, in dem Kaiser Karl der Grosse angeblich mit seinen Getreuen ruht und alle 100 Jahre fragt, ob die Raben noch um den Berg fliegen.

Der letzte Beitrag des Bandes von Stefan Engels (Graz) widmet sich der Kirchenmusik und insbesondere den Erzeugnissen der memoria defunctorum. Sie werden eindringlich vorgeführt und kommentiert, wobei die Aussagen der Texte zwischen den Polen «ewige Ruhe» und «Tag des Zornes» angesiedelt sind. Ob man sie allerdings als «zeitlos gültig» (S. 397) einschätzen kann, darf man bezweifeln.

Insgesamt ermöglichte die Rahmung des Themas ein Buch, das viele Horizonte eröffnet. Für den Mediävisten am überraschendsten dürfte sein, wie marginal in fast allen Beiträgen die Einschätzung der behandelten Phänomene als Strafe Gottes blieb, die in historischen Quellen doch geradezu omnipräsent ist. Eine kritische Bewertung der häufigen Vergleiche mittelalterlicher und moderner Reaktionen auf Krisen und Katastrophen, die alle auf Ähnlichkeiten abheben, scheint nötig: Wenn man nach Unterschieden gefragt hätte, wäre man sicher fündiger geworden. Die interdisziplinäre Vielfalt der Aspekte macht das Buch dennoch zu einer anregenden Lektüre.

Zitierweise:
Althoff, Gerd: Rezension zu: Rohr, Christian; Bieber, Ursula; Zeppezauer-Wachauer, Katharina (Hg.): Krisen, Kriege, Katastrophen. Zum Umgang mit Angst und Bedrohung im Mittelalter, Heidelberg 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 455-457. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.

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